Interview geführt von Michael Jagersbacher
Lieber Ben, du bist ja schon mehrere Jahrzehnte mit der Coaching- und Speakerszene in Berührung und in engem Austausch. Du hast viele Coaches auf ihrem Weg in Richtung Unternehmertum begleitet. Wie hat sich die “Szene” so entwickelt?
Ja, ich bin schon sehr lange “dabei”, quasi seit dem Startschuss des Coaching-Booms in Deutschland. Ich war auch lange Teil der German Speaker Association und habe mich mit meiner Expertise - der Ausrichtung von Geschäftsmodellen in Richtung Unternehmertum - eingebracht. Wenn ich die Entwicklung der Speaker- und Coaching-Szene so ansehe, dann muss ich mit Bestürzen feststellen, dass die Qualität in den letzten Jahren massiv zurückgegangen ist. Weshalb dies der Fall ist, werden wir vermutlich in diesem Interview besprechen.
Genau. Unser Ausgangspunkt für dieses Interview und für unseren Bericht war die bereits jetzt legendäre Jan Böhmermann- Sendung, in der er etliche Coaches durch den Kakao zog. Ist es wirklich so schlimm um die Szene bestellt?
Ja, absolut. Eigentlich ist es sogar noch schlimmer, denn Böhmermann hat ja tatsächlich nur die “erfolgreichen” und relativ bekannten Vertreter:innen der Szene genannt. Deren “Nachwuchs” ist ja noch schlimmer von der Qualität her. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich selbst habe etliche Coaches und Speaker tatkräftig beim Gestalten ihres Unternehmens unterstützt. In letzter Zeit lehne ich beispielsweise Speaker als Kunden vollkommen ab und Coaches selektiere ich sehr gewissenhaft. Weshalb dies so ist, hat mehrere Gründe. Die Vertreter:innen dieser beiden Branchen wollen nicht mehr wirklich Arbeit und Zeit in ihr Business stecken, sondern vor allem schnellstmöglich reich und so berühmt wie Tony Robbins werden. Es ist wirklich kein Witz: 95% der Coaches, mit denen ich gearbeitet habe, nennen Tony Robbins als Vorbild für ihr Business. Nun gut, der Mann hat tatsächlich was auf dem Kasten, doch ihn als Vorbild auszuwählen, zeigt, dass viele in der Branche einfach übergeschnappt sind. Verzeih mir den Ausdruck, aber ich kann diesen Umstand nicht anders benennen.
Weshalb ist das so, glaubst du?
Nun, um das zu verstehen, muss man das Geschäftsmodell der Coaches und Speaker verstehen. Der Fokus der neuen “Coaching-Generation” hat sich mehr und mehr weg vom Dienst am Kunden, hin zur Ausbildung von anderen Coaches verschoben. Ähnliches gilt für Speaker. Diese verdienen größtenteils ihr Geld nicht mit Vorträgen vor einem interessierten Publikum, sondern mittlerweile durch die Ausbildung von Nachwuchs-Speakern oder ähnlichen Dingen. Hast du etwa gewusst, dass lediglich eine Handvoll Speaker von ihrem Kerngeschäft leben können? Not macht bekanntlich erfinderisch.
Auch Coaches haben bemerkt, dass es viel einfacher ist, andere vom Berufsbild “Coach” zu überzeugen, als nach neuen Klienten Ausschau zu halten, die gerne Coaching konsumieren möchten, um ein Problem zu lösen. Die Ausbildungsschiene ist nun bei vielen Coaches und Speakern die Haupteinnahmequelle geworden.
Ich verstehe. Warum sind diese Leute nun “übergeschnappt”, meinst du?
Um Leute vom Coaching- oder Speaker-Beruf zu überzeugen und sie auf irgendwelche Wochenend-Workshops und -Seminare zu locken, wird ihnen das Blaue vom Himmel erzählt. Da wird versprochen, dass man innerhalb kürzester Zeit als Coach finanziell unabhängig wird, dass man sich nie mehr Sorgen um Geld machen muss und beispielsweise einen Millionen-Bestseller übers Wochenende verfasst. Ich brauche an dieser Stelle wohl nicht zu betonen, dass dies für die Qualität des Coachingmarktes alles andere als zuträglich ist. Es geht bei dieser “Marketing-Maschinerie” schon lange nicht mehr um den Klienten, der Coaching und Hilfe braucht, sondern um einen billigen Abklatsch eines Business-Modells, der für die meisten nur hohe Kosten verursacht, aber keine ernstzunehmende Einnahmequelle darstellt.
Weshalb agiert der Coaching- und Speakermarkt so?
Wie ich bereits gesagt habe, ist der Markt umkämpft. Coaches und Speaker tun sich immer schwerer, zahlende Kunden an Land zu ziehen, die auch Geld für ihre eigene Weiterentwicklung auf den Tisch legen. Geld jedoch für eine “vermeintliche” Karriere als Coach zu investieren, erscheint vielen Kunden sinnvoller. Schließlich geht es um die berufliche Zukunft. Der Coachingmarkt hat erkannt, dass es hier eine Nachfrage gibt und befeuert diese maßgeblich mit Aussagen wie: “Über Nacht zum Bestseller-Autor” oder “6-stellig innerhalb von wenigen Wochen”. Die Eignung als Coach oder Speaker wird überhaupt nicht geprüft, sondern es wird alles angenommen, was nicht bei drei auf den Bäumen sitzt und Geld in die Kassen spült. Das Geschäftsmodell scheint sich zu lohnen, denn überall sprießen Masterminds, Speaker-Coachings und Unternehmer-Workshops aus dem Boden. Coaches und Speaker scheinen mehr und mehr nur mehr da zu sein, um andere Coaches zu coachen, wie man Coach wird. Die Redundanz des Systems ist unübersehbar.
Und das Ergebnis solcher Prozesse sieht man bei Jan Böhmermann. Was hat diese Entwicklung für Auswirkungen auf Kunden, die gerne ein Coaching buchen möchten?
Für Interessierte bedeutet dies, dass es eine Fülle an Coaches gibt, die einfach nicht halten, was sie versprechen. Sie können es auch gar nicht, weil sie es nicht beigebracht bekommen. Ein Credo eines bekannten Coaches und Speakers lautet: “Inszenierung ist wichtiger als Inhalt”. Ich denke, dies sagt schon alles aus.
Ich sehe wirklich bizarre Entwicklungen in der Branche. Dadurch, dass alle um ihre Existenz und Daseinsberechtigung “kämpfen”, vermeidet der Großteil der Coaches bei den führenden Coaches und Speakern der Branche, anzuecken. Kritik und professionelles Feedback sind hier völlig außer Kraft gesetzt. Jede noch so hirnlose Idee wird unter tosendem Applaus von der Szene akzeptiert, in der Hoffnung, dass ein paar “Krümel” auf die auftragslosen Mitglieder abfallen. Man möchte sich nicht “wehtun” innerhalb der Branche, was aber dazu führt, dass die Qualität insgesamt massiv abnimmt, denn Kritik ist für die Weiterentwicklung wichtig.
Was hältst du von den verschiedenen Awards, die die Runde machen in diesem Bereich?
Dies ist einfach die konsequente Fortführung der Selbstbeweihräucherung der Branche. Hier werden Pseudo-Titel oder -Awards verkauft, die nicht das Geringste über die Qualität der Arbeit aussagen, sondern lediglich als PR-Zweck benutzt werden. Es soll dem Kunden als Qualitätskriterium dienen. Nachdem die Auszeichnungen in 99 von 100 Fällen gekauft sind - welchen Wert haben sie? Das Traurige ist ja folgender Umstand: Wenn diese “gescheiterten” Coaches irgendwann vor mir sitzen und ich darauf aufmerksam mache, dass gewisse unternehmerische Investitionen stattzufinden haben, dann schauen sie oftmals ganz verlegen und beichten, dass sie ihr ganzes Geld für Pseudo-Awards und Pseudo-Interviews rausgeschmissen haben. Investitionen für wirklich wichtige unternehmerische Prozesse sind dann nicht mehr drin. Was mich so stört an dem Vorgehen, ist einerseits der verminderte Nutzen für Coachingklienten und andererseits das gezielte Triggern von menschlichen Bedürfnissen. Hier wird mit dem Ego der Coaches gespielt, mit ihrem Bedürfnis nach Geltung und Status. Es wird vorgegaukelt, dass man sich diese kaufen kann, doch in Wirklichkeit muss man sich diese verdienen. Dazu sind jedoch die wenigsten bereit. Das ist die traurige Wahrheit.
Was bedeutet dies nun für Menschen, die sich gerne von einem Profi coachen lassen möchten? Gibt es diese Profis überhaupt noch? Man darf das Kind natürlich nicht mit dem Bade ausschütten, wie es so schön heißt. Es gibt sicherlich gute und professionelle Coaches am Markt. Meine Hinweise und Analysen sollen dabei helfen, die Spreu vom Weizen zu trennen.
Aber zugegeben - es wird mit jedem Jahr schwieriger, Qualität von bloßem Marktgeschrei zu unterscheiden und das sage ich als Profi, der sich seit über 20 Jahren mit der Materie beschäftigt. Die Möglichkeiten der Digitalisierung und die Kommunikationskanäle von Social Media haben dafür gesorgt, dass selbst der ungeeignetste Coach oder Speaker sich professionell vermarkten kann. Inkompetenzen und amateurhafte Techniken können auf diese Weise gut verborgen werden. Die junge Generation kann in der Tendenz einfach besser mit neuen Medien umgehen und kann sogar dafür sorgen, dass Coaches, die wirklich etwas auf dem Kasten haben, von ihnen übertönt werden. Nicht der Marktschreier mit dem besten Fisch hat den größten Erfolg, sondern der mit dem lautesten Organ. Zumindest kurzfristig. Leider hinterlässt dieser viel verbrannte Erde, die dann von Profis bestellt werden muss.
Lieber Ben, vielen Dank für das spannende Interview über die Entwicklungen in der Trainer-, Speaker- und Coachingbranche!
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